Die missverständliche Benennung der grammatischen Geschlechter durch den griechischen Philosophen Protagoras hat zu einer fehlerhaften Deutung des Genus-Systems geführt. Unsere Zeit plagt sich damit herum wie keine zuvor.
Protagoras hatte im 5. Jahrhundert v. Chr. als griechischer Grammatiker die Kategorie «Genus» in Umlauf gebracht und diese irrtümlicherweise in Bezug zum biologischen Geschlecht gesetzt. Die Kategorie ordnete er in «männlich», «weiblich» und «unbeseelt». Nach Aristoteles übernahm später auch der römische Rhetoriker und Grammatiker Aelius Donatus diese Klassifizierung, welche die Genera als direkte Widerspiegelung des Sexus deutete. Donatus, Lehrer des heiligen Hieronymus, zementierte mit seinem enormen Einfluss die von Protagoras eingeführte Benennung der Nominalklassen. Mit seinen Standardwerken «Ars minor» und «Ars major» galt er von der Spätantike bis in die Neuzeit quasi als Grammatik-Superstar.
Im 17. Jahrhundert wurde der Begriff «Genus» korrekt mit «grammatisches Geschlecht» ins Deutsche übersetzt, was jedoch viele Jahre später zur Verfestigung der Falschassoziation von Genus und Sexus führen sollte. In der Zeit des Barock hatte der Begriff «Geschlecht» indes eine deutlich breitere Bedeutung und stand für «Gattung», «Kategorie» und «Art». Das heisst,
er verwies keineswegs ausschliesslich auf das biologische Geschlecht.
Biologisierung eines Begriffs
Das seit dem Althochdeutschen überlieferte Wort «Geschlecht» ist übrigens etymologisch mit dem Verb «schlagen» verwandt und bedeutete ursprünglich «was in dieselbe Richtung schlägt», «vom selben Schlag sein» oder auch «nach jemandem schlagen» bzw. geraten. Noch heute verwenden wir Ausdrücke wie «Menschenschlag» oder sagen, jemand sei «aus der Art geschlagen».
Aufgrund der Reduktion des Begriffs «Geschlecht» auf die Biologie, wie sie in den folgenden Jahrhunderten üblich wurde, assoziiert der moderne Mensch mit «grammatischem Geschlecht» unbewusst sowohl das biologische wie auch das soziale Geschlecht.
Die einst neutrale Bedeutung finden wir noch in Begriffen wie «Adelsgeschlecht» oder «Menschengeschlecht». Heute würde man «Genus» vermutlich eher mit «grammatische Kategorie» übersetzen. Ein Beispiel hierfür ist das «Genus Verbi», eine «Kategorie des Verbs», die die Handlungsrichtung angibt und zwei Formen annehmen kann: aktiv oder passiv.
Trotz vielen stichhaltigen Widerlegungen folgt die Genderlinguistik unbeirrt der trügerischen Verknüpfung von Sexus und Genus.
Nur, was bliebe von dem Vorwurf einer «männlichen Muttersprache», wenn die grammatischen Geschlechter eine vom Sexus losgelöste Entwicklungsgeschichte vorzuweisen hätte?
Die spektakuläre Antwort darauf liefert die Indogermanistik. Die deutsche Sprache schälte sich im Frühmittelalter mit der zweiten Lautverschiebung aus der germanischen Sprachfamilie heraus, die sich etwa bis 500 v. Chr. aus der indogermanischen Sprachfamilie entwickelt hatte. Deutsch hat seine Wurzeln also in der weltweit grössten Sprachfamilie: der indogermanischen bzw. indoeuropäischen Sprachgemeinschaft.
Aufgrund der Rekonstruktion der urindogermanischen Sprache weiss man mittlerweile ziemlich genau, dass vor etwa 5000 Jahren im Raum zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer das erste Genus das Licht der Welt erblickte. Zuvor war die indogermanische Ursprache – ebenso wie etwa die finnisch-ugrischen Sprachen Ungarisch, Finnisch und Estnisch – Genus-frei.
Das erste Genus, das später irreführenderweise als «maskulines Genus» bezeichnet werden sollte, entstand zur Markierung des Subjekts. Kurz darauf bildete sich das zweite Genus, welches das Objekt im Satz markierte – dieses wird heute als Neutrum bezeichnet. Etwa 500 Jahre später bildete sich das dritte Genus, das später als Femininum bekannt werden sollte. Und dieses wurde nicht dazu verwendet, biologische Frauen zu benennen, sondern dazu, Abstrakta und Kollektiva sprachlich abzubilden. Die grammatischen Geschlechter sind also völlig unabhängig von den biologischen Geschlechtern entstanden.
Dieser Sprachwandel vollzog sich, ohne dass er von den Sprachträgern bemerkt wurde, und entsprang letztlich dem kollektiven Gebrauch der Sprecher.
Lange nach der Entstehung des dritten Genus kam es bei diesem vermehrt zu einer Anlagerung weiblicher Tierbezeichnungen, die aus Kollektiva gebildet wurden. Man denke etwa an «Gestüt» – «Stute». Später fanden sich auch zunehmend weibliche Personenbezeichnungen im dritten Genus, welche ebenfalls aus Kollektiva und Abstrakta gebildet wurden. Begriffe wie «die Schönheit (vom Lande)» sind heute noch Beispiele dafür.
Über einen langen Zeitraum wurden alle Personen mit dem Standardgenus adressiert. Erst später kam es zu einer vermehrten Aufteilung in Männer und Frauen, jedoch nur bei elementaren Personenbezeichnungen. Diese sind auch die einzigen Begriffe, bei denen sich Sexus und Genus überschneiden. Darüber hinaus erkennen wir bis heute, dass ein anderes Ordnungssystem im Hintergrund arbeiten muss, wenn wir Begriffe wie «der Busen», «das Glied», «die Eichel», «das Weib», «das Mädchen», «der Schoss», «die Männlichkeit», «die Mannschaft», «die Sonne», «der Mond» usw. lesen. Weder die Biologie noch eine Weltanschauung ordnen die Wörter den drei grammatischen Geschlechtern zu.
Und das Plural-«die»?
Das «generische bzw. geschlechtsneutrale Maskulinum» ist in diesem Fall nichts anderes als das erste Genus,
das «Standardgenus». Erst mit der Abspaltung des Weiblichen bei grundlegenden Personenbegriffen und der Entstehung des «Frauen-Suffix» «-in» aus einer Abstrahierung erhielt das sogenannte Maskulinum im Laufe der Zeit seine Doppelfunktion. Die generische Funktion hat also nichts damit zu tun, Frauen unsichtbar zu machen. Die Genera an sich und die generische Form als solche interessierten sich von Beginn an nicht für biologische Geschlechter. Es wäre wohl eher folgerichtig, die drei Genera mit «Nominalklasse 1, 2 und 3» zu benennen, statt ihnen ein biologisches Mäntelchen umzuhängen.
Die Fähigkeit, merkmalabstrahierend zu formulieren, liefert uns das «generische Maskulinum», das alle Geschlechter abstrahiert und direkt auf Inhalte verweist. Eine weitaus passendere Bezeichnung für dieses wäre «geschlechtsneutrales Standardgenus». Geschlechtsinklusive Schreibweisen – die den Oberbegriff «Bürger» in «Bürgerinnen und Bürger», «BürgerInnen» bis hin zu «Bürger*innen» und «Bürger:innen» fragmentieren – mögen gut gemeint sein, sie übermarkieren, sexualisieren und verkomplizieren jedoch die Sprache stark. Sie machen es den Sprachnutzern unmöglich, unabhängig vom Geschlecht zu formulieren.
Trotz all diesen Argumenten folgt die Genderlinguistik unbeirrt der trügerischen Verknüpfung von Sexus und Genus. Wer dieses Trugbild weiterhin als real liest, wird sich über die folgende Zählung des Dudens freuen: Etwa 46 Prozent aller Nomen sind feminin, 34 Prozent maskulin und 20 Prozent neutral. Weiters steht der Pluralartikel «die» im Deutschen mit dem femininen Artikel in Verbindung, genauso wie die 3. Person Plural «sie» mit der 3. Person Singular feminin gekoppelt ist. Hätten darob nicht auch die Männer Grund, sich nicht mitgemeint zu fühlen? Aber selbstredend war hier erneut kein «Kampf der Geschlechter» ausschlaggebend, sondern die kollektive Sprachintelligenz wählte unbewusst jenes Genus, das mit dem Plural (Kollektiva) korrespondiert.
Verschwörungserzählung
Die Behauptung eines linguistischen Patriarchats ist eine moderne Verschwörungserzählung rund um das «generische Maskulinum», die als Grundlage für den ersten künstlichen Umbau der deutschen Grammatik dient. Dieser unterscheidet sich grundlegend von Orthografiereformen oder neuen Wortschöpfungen, da diese nicht in die Sprachstruktur eingreifen. Wir haben es hier mit einer auf fehlerhaften Annahmen basierenden Gesinnungsgrammatik zu tun, die nicht nur das Geschlecht sprachlich durchgehend sichtbar machen möchte, sondern in der Sprache auch eine bestimmte Ideologie abbilden möchte.
Die Gendersprache hat sich für die «Diesseitsreligion» des Wokeismus zu einem Fetisch oder einer Art Sakralsprache entwickelt. Der auf Falschannahmen beruhende Umbau der deutschen Grammatik und die Hinzufügung von Sonderzeichen, die nicht Teil der deutschen Orthografie sind, entziehen dem Bemühen um sprachliche Gleichstellung jedoch die Legitimität in der Sache.
Bekannt ist auch, dass sich die Mehrheit der Bürger und Sprachwissenschafter gegen die Gendersprache ausspricht. Dennoch wird der ideologische Umbau der Sprache nirgendwo sonst auf der Welt so systematisch vorangetrieben wie im deutschsprachigen Raum. Dabei war Deutsch stets eine widerständige, in der Mitte der Bevölkerung verwurzelte Sprache, die sich trotz lang andauernder Geringschätzung als Weltkultur- und Wissenschaftssprache etablieren konnte.
So emanzipierte sich Deutsch im Laufe der Geschichte unter anderem gegenüber der «Sprachdreifaltigkeit» von Hebräisch, Griechisch und Latein. Mit seiner poetischen Lebendigkeit wird Deutsch auch die technokratischen Eingriffe der Gendersprache überdauern.
Sein Reichtum ist atemberaubend. 23 Millionen Begriffe zählt das Duden-Korpus, es gibt mehr Wörter als in jeder anderen Sprache.
Ersetzen wir das «generische Maskulinum» durch die korrekte Bezeichnung «geschlechtsneutrales Standardgenus», entsexualisieren und renaturieren wir die einstmals frei mäandernde deutsche Sprache. Wer sprachlich Neuland gewinnen möchte, vertraue der Sprachintelligenz aller 103 Millionen Menschen, die Deutsch als Muttersprache sprechen. Die deutsche Sprache ist ein gemeinsamer Schatz, den wir mit Demut behandeln sollten.