Das Eis in den Herzen der Menschen soll schmelzen

Grönland-Schamane Angaagaq - Interview mit Gerald Ehegartner

Interview mit dem Grönland-Schamanen und Klima-Aktivisten Angaangaq geführt von Gerald Ehegartner

(english version…)

Kurz nach dem Unterricht an meiner Schule – „Abenteuer Natur“ stand noch am Programm – starte ich Richtung Salzburg los. Ich habe einen Interview-Termin mit Angaangaq – dem Grönlandschamanen – vereinbart. Spätestens seit der ZDF-Doku „Wenn das Klima kippt“ ist dieser sympathische „Grönland-Eskimo“ vielen ein  Begriff.

Nach einem sehr freundlichen Empfang seiner Organisatorin Michaela warte ich in einer Wohnung namens „Der Kraftplatz“ auf ihn und bin schon gespannt, was er besonders zu den Themen Ökologie, Spiritualität und Kinder zu erzählen hat. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die indigenen Stimmen einen besonderen Beitrag in der derzeitigen „Menschheitskrise“ leisten können – wenn wir nur hören wollen…

Schon nach kurzer Zeit öffnet sich die Tür zu Angaangaqs Zimmer, er tritt heraus, lächelt mir zu und umarmt mich. Das ist jener Moment, wo mir wieder bewusst wird, wie selten wir doch einander umarmen (und wie großgewachsen ich bin…). Angaangaq und Michaela bitten mich in das Zimmer und nach einem kurzen, persönlichen Gespräch schalte ich mein Smartphone ein und lausche den Worten von Angaangaq. Sein Englisch ist einfach und zum Glück gut verständlich:

Gerald Ehegartner:
Angaangaq, hast du noch Hoffnung für unsere Welt? Wir leben offensichtlich in einer nicht gerade einfachen Zeit.

Angaangaq:
Ja, es ist eine sehr schwierige Situation.
Zuallererst: Alleine hier in Europa gibt es so viele von uns. Europa ist ein sehr kleiner Kontinent und nur mehr wenige Flecken ursprünglicher Natur sind übrig geblieben. Wenn ich hier (Salzburg; Anm. d. Red.) in einen Park gehe, dann bin ich nicht alleine, ich treffe hunderte Leute. In Frankreich, Italien, Schweiz, Deutschland, Dänemark, Polen, Ungarn usw. –  überall dasselbe.

Und die Vielfalt der Tierwelt verschwindet so unglaublich schnell. Es ist beängstigend.

Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst, als der Bär Bruno von Italien aus mehrere Länder aufsuchte. Millionen Menschen bekamen plötzlich Angst. Man holte sogar Spezialisten aus Finnland, um den Bären zu bejagen. Stell dir vor – nur ein Bär! Anstatt ein Tier willkommen zu heißen, reagieren die Menschen mit Angst. Es ist in vielen Ländern hier so.

Wir machen Dinge, die der Tierwelt einfach enormen Schaden zufügen.

Aufgrund unseres Lebensstils ist es notwendig, dass wir genügend Rinder, Schweine und Hühner halten. Die Nutztiere übernehmen schon des längeren das Land der wilden Tiere. Dadurch verlieren wir aber die Diversität und den Raum für die wilden Tiere. So trennen und entfernen wir uns von der Natur, vom Leben. Zur selben Zeit produzieren wir nur mehr jene Nahrung, die wirtschaftlich sinnvoll erscheint. Die Arten- und Sortenvielfalt verschwindet.

Denkst du, dass dies eine Folge des „westlichen Profit-Denkens“ ist?

Ja, das ist es.

Was denkst du über die Rolle der Religion? Ist es nicht ursprünglich auch unsere Art des religiösen Denkens, die uns zuerst von der Natur trennte?  In unserer religiösen Form der Spiritualität findet sich nur der Vater – keine Mutter Erde, keine Tiere usw.

Ja, absolut richtig. Aber es gilt noch einen weiteren Aspekt zu beachten: Wir Menschen wurden einfach so viele, sodass wir nicht genügend Platz hatten. Und die Erste, die leiden musste, war die Wildnis. Wir verloren speziell in den letzten Jahrzehnten enorm viel von der Tier-, Pflanzen- und Mineralwelt. Die Luft ist verschmutzt, das Wasser ist verunreinigt und das Feuer hat sich verändert.

Wir verlieren die ganzheitliche Schönheit von Mutter Erde.

 

Was lehrt dich die Wildnis, Angaangaq?

Mutter Erde kann ohne uns leben – aber wir können nicht ohne Mutter Erde leben. Als Erwachsene verstehen wir das in der Tiefe nicht mehr, wir haben den Kontakt zur Wildnis verloren. Zum Glück gibt es im Norden, woher ich komme (Grönland; Anm. d. Red.), eine Menge Wildnis und es ist so fantastisch, dorthin zu gehen.

Die Wildnis lehrt mich die Schönheit des Lebens selbst.

Ich habe das Glück, in einem Land zu leben, wo  Karibus ihre Jungen gebären und ich das beobachten darf.

Alleine die Geburt eines jungen, freilebenden Tieres macht dir klar, dass die Welt viel größer ist mit der Wildnis, mit Mutter Natur. Die Welt ist voller Wunder, wenn wir es erlauben, dass sie existieren.

Aber wir erlauben es nicht.

Aber was können wir tun?

Wiederbeleben, wiedererschaffen, wiederherstellen von Wildniszonen.

Hier in Österreich leben beinahe  nur mehr Rehe und Wildschweine als große Wildtiere. Außerdem sieht man kaum mehr Füchse. Ohne Füchse gibt es zu viele Mäuse und Ratten, was sehr ungesund und schädlich ist.

Wir denken einfach nicht daran, dass alles miteinander verbunden ist.

Zum Beispiel der Wolf: Wenn er fehlt, so hat das Einfluss auf andere vierbeinige Tiere, es hat einen Einfluss auf die Flora, auf das Wasser. Wenn sich Rehe ohne Feinde ernähren, verursachen sie ein Ungleichgewicht in der Pflanzenwelt.  Aber wenn der Wolf auf der Bühne erscheint, dann jagt er die Rehe, sodass sie nicht auf einem bestimmten Platz bleiben. Die Pflanzenwelt kann wieder gedeihen. Dann kehren die Vögel, die kleinen Tiere, die Insekten mit dem Wolf zurück. Aufgrund des Pflanzenwachstums fließt auch das Wasser anders. Alles hat einen Einfluss. Aber wir haben das vergessen.

Angaangaq, was ist deine Hauptbotschaft? Warum bist du Lehrer?

Ich möchte helfen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen. Und ich möchte das Bewusstsein dafür schaffen, dass wir in vielen

Gebieten der Erde wieder die Wildnis brauchen. Wenn wir unsere Herzen öffnen und die Angst verlieren – wie vor diesem Bär, den Wölfen, den Kojoten, den Füchsen – dann ist dies möglich. Sie sind schon lange mit uns –

wir brauchen unsere Mutter Erde.

Hast du das Gefühl, dass dies auch mit Spiritualität zusammenhängt – also mit fehlender Spiritualität? Als Lehrende können wir kaum darüber reden, Spiritualität hat da keinen Platz, weil sie nicht wissenschaftlich scheint.  

Du und ich – wir können nicht ohne unsere Spiritualität leben.
Die Art und Weise, wie sich zurzeit Spiritualität gerne widerspiegelt, ist, dass sie zu klein und die Körperlichkeit sehr entwickelt ist. Oder umgekehrt: Die Spiritualität ist zu groß, das Physische ist zu wenig ausgeprägt. Wir haben die Balance verloren.
Du und ich – wir können nie lernen, wie ein Adler aufzuschwingen, bis wir auch die Balance zwischen unserem Verstand und unserem Spirit gefunden haben.

Wir haben aber noch zu viel Eis in unseren Herzen.

Woran erkennt man das? Wir sagen nicht „Guten Morgen“ zueinander. Am Hauptbahnhof (in Salzburg – gilt natürlich für Bahnhöfe generell; Anm. d. Red.) bemerkt man, dass die Menschen sich gegenseitig nicht wahrnehmen. So leben wir getrennt und abgekoppelt nebeneinander. Wir haben Eis in unseren Herzen und feiern unsere Schönheit nicht mehr.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass gerade Mozart, der berühmteste Salzburger und eines der größten Musikgenies der Weltgeschichte, sehr herzoffen war – und Musik komponierte, die bis heute Herzen öffnet
(Vielleicht sollte man Mozartmusik am Salzburger HBf spielen…, A. d. Red.)

Ja – und ich liebe bezugnehmend darauf, was die Alten bei uns schon immer sagten: Nur wenn das Eis im Herzen der Menschen schmilzt, haben diese eine Chance sich zu ändern und können beginnen, ihr Wissen weise einzusetzen. Ich mag das.

Wir besitzen so viel Weisheit, nur wir wissen nicht mehr, wie man diese verwendet.

Das bedeutet, dass wir unseren Weg ändern müssen, indem wir das Eis in unserem Herzland schmelzen.

So, wie ich dich verstehe, müssen wir wieder dringend Wildnis zulassen, sie auch aktiv mitgestalten. Zum Beispiel bräuchten wir hier in Österreich wieder Plätze für wildlebende Tiere, die sich frei bewegen können. Das ist, was du gemeint hast, oder?
Und dann gibt es die Wildnis in einem selbst – den eigenen Körper, die wilden Gefühle, die unergründliche Psyche – die es zu schützen gilt.

Absolut. Was innen ist, ist auch außen.  Was außen ist, ist auch innen. Und so geht es darum, die Balance in jedem von uns zu finden.

Du hast sicher von den SchülerInnen gehört, die für das Klima streiken. Was denkst du darüber?
Die Bewegung begann mit Greta aus Schweden – und es fühlt sich schon seit Längeren so an, als würde hier eine Revolution heranrollen. Ist es nicht ungemein kraftvoll, wenn die junge Generation für ihre Zukunft eintritt und sich dem Unterricht der Erwachsenen, an die sie die Hauptverantwortung für die Klimakrise adressieren, verweigert?

Greta repräsentiert die Zukunft der Menschheit und wie sie mit Mutter Erde verbunden ist. Im Moment vergewaltigen wir die Erde, nehmen ausschließlich und geben nichts zurück. Wir denken nicht an die Konsequenzen. Wir wurden im Denken limitiert.

Hoffentlich kannst du in deiner Schule, im Schulsystem die Kinder lehren, die Mutter Natur zu verstehen.

Es geht darum, die Wildnis auch für Menschen wiederherzustellen, die Artenvielfalt der Fauna abzusichern. Wenn wir das nicht machen, wird der Großteil der Tierwelt verschwinden.

Was ich bei dir auch höre, ist, dass es nicht genügt, die Namen der Tiere, der Bäume usw. zu wissen oder nur mit Technik etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen – es geht darüber hinaus.

Ja, es ist mehr. Es ist die Verbundenheit, die wir miteinander haben.

Wir sind alle verbunden. Wir leben nicht für uns alleine.

Ich finde es so traurig, dass viele spirituelle bzw. religiöse LehrerInnen – oft großartige Menschen – sich kaum um die Natur kümmern. Sie verschreiben sich meist anderen Themen. In ihren Ausführungen ist wenig Platz für die Lebewesen der Erde wie die Tiere usw.

Ich weiß, ich weiß. Das ist beängstigend. Und es ist beängstigend, sich vorzustellen, dass wir alles um uns herum an Schönheit verlieren. Wir leben zum Beispiel in den Städten in Häusern, wo wir tagsüber die Sonne und nachts die Sterne nicht mehr bemerken.

Warum denkst du, dass es für die Kinder so wichtig ist, eine konkrete Verbindung zur Natur zu bekommen? Was macht es mit den Kindern, wenn sie raus in die Natur gehen?

Die Welt des Kindes wird sich öffnen. Das Herz wird sich öffnen und das Kind wird viel mitfühlender und sorgsamer mit dem Leben sein.

Du hattest einmal gemeint, dass die Lehrerin/der Lehrer, die Pädagogin/der Pädagoge, der meist geschätzte Beruf in der Gesellschaft sein sollte. Magst du dazu noch etwas sagen?

Die Zeit wird kommen, wo wir Lehrerinnen und Lehrer dafür zutiefst schätzen, dass sie unsere Kinder für die Zukunft großziehen. Es ist der verantwortungsvollste und wichtigste Beruf, den man sich vorstellen kann.

Zitat von Angaangaq auf die Frage:
«Warum braucht es den Austausch von Ländern, denen es am Herzen liegt, dass die Natur der beste Lehrer für die Kinder ist?»

Denkst du, dass sich ebenso die Schulen ändern müssen – auch in der Art und Weise, wie sie mit den Kindern arbeiten?

Ja. Sicher. Ganz sicher. Wir können doch nicht nur lesen und schreiben lernen. So können wir nicht vorgehen. Immerhin müssen und dürfen wir noch auf der Erde leben. Als ich ein Kind war, lernte ich über jedes einzelne Tier, das in unserem Gebiet lebte. Und wenn der Frühling kam, musste ich rausgehen, um die jungen Tiere zu sehen.

Wenn ich sie nicht gekannt hätte, wie hätte ich sie dann jagen können? Ich kannte jedes einzelne Tier mit Namen. Ich musste, denn unsere Welt war davon abhängig. Hier in der modernen Welt sind wir scheinbar nicht abhängig.

Wir denken, wir könnten ohne die Natur leben. Aber das ist eine Illusion. Wir sind in Wahrheit auch die Natur selbst.

Kannst du noch ein abschließendes Statement geben?

Die Zeit ist gekommen, unsere Kinder zu lehren, wie man in der Natur lebt.

Wenn sie erwachsen werden, können sie wieder Wildnisgebiete schaffen. Die nächsten Generationen werden die Schönheit der Vielfalt der Tier-, Pflanzen- und Mineralwelt und der Elemente geradezu verstehen dürfen und müssen.

Denkst du, dass eine Kombination aus modernem und naturverbundenem Leben möglich ist?
Wir haben nun mal die Computer, die ganze Technik, die viel beschworene digitale Revolution.

Absolut. Und wir müssen uns dabei unterstützen. Wir dürfen gemeinsam gehen. Niemand schafft das alleine. Die Alten sagten: „Es ist nicht genug, einfach nur zu wissen. Du musst etwas mit dem Wissen tun.“ Also macht etwas mit dem Wissen! Lehrt die Kinder, mit der Natur zu leben! Erschafft wieder Wildnis, damit erneut Platz für die freilebenden Tiere, Pflanzen und Mineralien entsteht! Bringt eure Herzen zum Schmelzen!

Danke, Angaangaq!

Danke!

Wissenswertes über Angaangaq

Angaangaq ist ein Ältester der Eskimo-Kalaallit aus Westgrönland, der von seiner Familie in den höchsten Rang des Schamanen berufen wurde. Er ist seit vielen Jahren als traditioneller Heiler tätig. Sein Einsatz für Umwelt und indigene Themen führte ihn in über 70 Länder der Welt.
Angaangaq integriert die mündlich überlieferten Heiltraditionen und Weisheiten der uralten Eskimo-Lehren in Kreisen, Intensivseminaren und Aalaartiviit (traditionellen Schwitzhüttenzeremonien). Er spricht bei internationalen Konferenzen und Symposien über die Umwelt, den Klimawandel und indigene Themen
https://icewisdom.com/de/

Dieses Interview ist ebenfalls freundlich veröffentlicht in der Infothek Waldkinder