Als Jesus die Aussätzigen umarmte, die ausgeschlossen von der Mehrheitsgesellschaft ihr Dasein fristeten, schritten die Hohepriester über eigens errichtete Brücken zum Allerheiligsten des Tempels. Sie wollten nicht mit dem gemeinen Volk in Kontakt geraten und ihre Reinheit riskieren.

Als Vivekanandas Schüler sich in die Meditation versenkten, rügte er sie und trieb sie hinaus in die Welt, um ihren Schwestern und Brüdern beizustehen. Sie sollten Meditation und Dienst am Nächsten verbinden. Es wäre aktuell die Zeit, so meinte er, das Leid der Welt zu verringern – und nicht selbstsüchtig die eigene Verwirklichung anzustreben.

Diese wäre genauso über die Hilfe für die Schwachen und Ausgegrenzten zu erreichen. Er lehnte das Kastensystem ab, das auch spirituell gerechtfertigt wurde.

Liebe Spirituelle, sehen wir aktuell nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit in dieser Welt, erfasst uns nicht der „heilige Zorn“?

„Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung“, schrieb der unvergleichliche und engelhafte Poet William Blake. Treiben wir die Händler der Pandemie mit heiliger Wut aus unserem inneren Tempel?

Setzen wir uns mutig ein für eine bessere Welt?

Oder ziehen wir es vor, uns – in einer Art selbstgerechter Haltung – in einen spirituellen Schrebergarten zurückzuziehen?

Wollen wir uns nicht schmutzig machen? Keine tiefschwingenden Gefühle spüren? Uns nicht positionieren?

Wollen wir ausschließlich in reinem Licht baden, während die Gesellschaft vor die Hunde geht?

Der Boddhisattva verzichtet dank seines Mitgefühls auf die persönliche Erleuchtung. Er verpflichtet sich, allen Wesen zu helfen, bis auch der Letzte unter uns erleuchtet ist. Doch was machen wir?

Sind wir neben den Künstlern und Intellektuellen die nächste herbe Enttäuschung? Und ja – wir sind es. Viele sprechen aktuell von einem Totalversagen der Intellektuellen. Wie werden sie wohl über uns „Spirituelle“ sprechen?

Was ist von uns angesichts faschistoider, geistentleert transhumaner Entwicklungen zu hören, die die Gesellschaft spalten, das Vermögen der Allerreichsten nochmals verdoppeln, Natur und Mensch als Ressource missbrauchen usw.?

Dröhnendes Schweigen! Galant umschweben wir auf Wolke sieben die derzeitigen Felder des Konflikts, die den Boden für eine Technokratur aufbereiten. In Weiß gekleidet wollen wir uns nicht schmutzig machen. Wollen wir etwa auch nicht Farbe bekennen?

Und wir meinen, der Polarität zu entkommen, wenn wir die Füße nicht auf den Boden kriegen. Lieber ziehen wir Karten, räuchern unser inneres Gefängnis des Rückzugs, sitzen die Meditationskissen platt und hören betörende Synthesizer-Musik. Wir meditieren so lange, bis der Geruch der (angst)vollen Hose irgendwie nach Weihrauch zu duften scheint. Wir verwenden ausschließlich positive Sprachcodes, um ja nicht als unspirituell zu gelten. Wir haben uns verfangen in einem Netz der spirituellen Korrektheit, die uns wichtiger scheint, als die Empathie für uns und unsere Mitmenschen.

Und so finden wir keine ehrlichen Worte mehr, um das Leid zu benennen.

Wir denken ja ausschließlich positiv. Mit „positiver Gewalt“ betonieren wir die natürlichen Lebenswege gerade. Wir wenden uns ausschließlich dem Licht zu und spalten den Schatten ab, ignorieren das Leid in der Welt. Das Wissen und die Wahrnehmung darum könnte uns nach unten ziehen. Und so schützen wir unsere Kinder und Jugendlichen nicht, die einem Corona-Todeskult geopfert werden.

Treibt es uns keine Tränen in die Augen, wenn Kinder und Jugendliche die Psychiatrien überschwemmen? Lässt es uns kalt, wie wir mit unseren Jüngsten und den Ältesten in dieser Zeit verfahren?

Oder behaupten wir, angeblich Neues aufbauen, statt Altes zu bekämpften. Dann müssen wir aber beim Wort genommen werden und liefern. Nur, es ging niemals darum, einfach dagegen zu sein.

Es geht darum, aufzustehen, das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen und vielleicht erstmals auch Kante zu zeigen. Ein klares Nein kann auch ein Ja für das Leben bedeuten.

Hätte Jesus keine klaren Worte gesprochen, so wäre er unbeschadet alt geworden – ein gern gesehener Gast bei den damals Mächtigen, aber völlig unbekannt für die Weltöffentlichkeit. Er schwieg aber nicht und sprach himmelschreiende Ungerechtigkeiten an.

Dietrich Bonhoeffer meinte im Angesicht des Nazi-Schrecken-Regimes: “Schweigen im Angesicht des Bösen ist selbst böse: Gott wird uns nicht als schuldlos betrachten. Nicht zu sprechen ist sprechen. Nicht zu handeln ist handeln.”

Albert Einstein sagte: „Die Welt wird nicht bedroht von Menschen, die böse sind, sondern von denjenigen, die das Böse zulassen.“
Wir können nicht länger schweigen, die Schatten umschiffen, Goldblätter auf Wunden legen. Dies ist eine selbstgefällige Täuschung. Verwechseln wir Ignoranz, Selbstgefälligkeit und Angst nicht mit einer Spiritualität, die so flach ist, dass niemand darin eintauchen kann. Der geheilte Schatten verleiht Tiefe, das Licht Höhe.

Es ist Zeit, in die Scheiße zu greifen. So wie Ramakrishna, der beim Anblick dieser in Verzückung geriet, da er in allem Gott erkannte. Gott ist nicht nur in heiligen Hallen, in exklusiven esoterischen Clubs, in hohen Welten zu finden. Das Eine ist überall. Und Liebe bedeutet nicht, sich ausschließlich der Lichtarbeit zuzuwenden. Sie bringt Licht in den Schatten, sie heilt den Schmerz. Sie umgibt sich nicht nur mit Gesunden, denn gerade die Kranken brauchen den Arzt. Stehen wir doch endlich auf, mit den Füßen am Boden, geerdet und gehimmelt. Sehen wir klar das Unrecht, welches sich anschickt, sich international auszurollen. Erkennen wir doch das biotechnologisch-digitale Gefängnis, dessen Mauern gerade im Namen der Angst erbaut werden, um am Altar den Transhumanismus anzubeten.

Wir wissen nichts davon? Dann ziehen wir unseren Kopf aus dem Sand, während wir von einer schönen esoterischen Blumenwiese träumten. Eine „schöne, neue Welt“ rollt nämlich heran, um die Herrschaft zu übernehmen. Kein Wunder, dass uns viele für große, spirituelle Vögel halten. Und dies ist meist nicht als Kompliment gemeint. Haben wir unser Herz, unseren Verstand, unsere Intuition im Namen der Spiritualität vernebelt und verloren? Setzen wir doch unseren gottgegebenen Verstand mit unserem Herzen ein. Wissen ist eine Hol- und keine Bringschuld.

Und glauben wir ja nicht, dass wir uns verstecken könnten. Sie werden uns holen, wenn wir nicht gemeinsam aufstehen. Erheben wir die Stimme und legen wir auch unseren Gehorsamskult ab. Ziviler Ungehorsam und die Liebe zur Freiheit sollten die Kleider sein, die wir tragen. Gehorsam gegenüber äußeren Autoritäten ist eine Falle. Es ist die innere
Autorität, die führt. „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat“, schrieb H. D. Thoreau in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In uns allen steckt ein Thoreau, ein Mahatma Gandhi, ein Martin Luther King, ein Nelson Mandela, eine Vandana Shiva. Wollen wir lebendig wie diese sein, oder aber das Leben meiden und gemütlich mit jenen unter dem Radar fliegen, die das ungesicherte Leben fürchten?

Spiritualität darf rebellisch sein, sie ist es im Kern. Verwechseln wir nicht das Schwimmen im gesellschaftlichen Strom mit jenem im göttlichen. Gegen den gesellschaftlichen Strom zu schwimmen kann bedeuten, wieder zur eigenen Quellen zu finden. Denken wir darüber nach. Und glauben wir ja nicht, dass ein wenig Licht aus unserem spirituellen Versteck zu senden, die Welt aus den Angeln heben und retten wird.

Wenn der aufkeimende Faschismus in neuem Gewand besiegt werden konnte, dann nicht wegen uns, die wir abkömmlich waren – sondern wegen denjenigen, die den Mut fanden, auf die Straße zu gehen und/oder das Unrecht mit allen Mitteln auszuhebeln. Sie mögen uns zu laut, zu frech, zu unbequem gewesen sein. Wir mögen im gemütlichen Lauf der Herde nicht bemerkt haben, dass sie verfolgt wurden, ihre Jobs verloren und angeprangert wurden. Aber sie waren es, die wirkten. Erinnern die Versammlungen, die Jeshua ben Joseph alias Jesus, der Christus, anführte, nicht an heutige friedliche Demos? Diese waren nicht genehmigt, seine Anhänger wurden als Spinner abgetan. Die Menschen damals waren bitter enttäuscht von den Machthabern, der Politik und der Priesterkaste. Jesus forderte mit seiner unvergleichlichen Art die imperiale Politik Roms heraus, wie auch die kollaborierende jüdische Oberschicht. Jesus bezog in Liebe Position. Ein Akt des Mitgefühls, der den Herrschenden den Schweiß auf ihre Stirn trieb. Positionieren wir uns auch in Liebe? Und folgt die Kirche Jesu Spuren, oder kollaboriert sie wie die religiösen Machthaber zur damaligen Zeit?

Wenn das milliardenschwere Kartenhaus zusammenfällt, dann nicht wegen uns, sondern wegen denen, die mutig in dieses hineinblasen konnten, obwohl man ihnen die Maske der Konformität aufzwingen wollte. Und dann, wenn alles gut wird, werden wir zähneknirschend feststellen müssen, dass vielleicht nicht wir die Spirituellen waren – sondern vielleicht jene, die mutig vorangingen, weil sie instinktiv spürten, dass Mut und Empathie eine spirituelle Kategorie sind. Und wir werden bitter erkennen müssen, dass wir einem Etikettenschwindel erlegen sind.

Dann wird es, spät aber doch, an der Zeit, sich zu bedanken bei all denen, deren Einsatz die Welt zu einem besseren Ort gemacht hat. Ja, auch die dunklen Gestalten im globalen Spiel spiegeln unser Ego und sind Schwestern und Brüder aus der einen Quelle. Sie verdienen genauso unser Mitgefühl. Aber verwechseln wir nicht die Ebenen und ruhen uns aus auf einem mentalen Kissen. Verhelfen wir dem Leben zu einem freien Ausdruck, helfen wir unseren leidenden Kindern. Sie und das lebendige Leben haben es verdient.

An alle Spirituellen – ob inmitten von Glaubensgemeinschaften oder auch nicht: Kommt nach „unten“ zum Bodenpersonal und helft, die kaputten Böden wieder fruchtbar zu machen! Wir brauchen nicht nur eine neue Humus-, sondern auch eine frische Human- und Humorschicht. Es ist an der Zeit, sich zu positionieren und aufzustehen. Gehen wir in die Konfliktfelder und verbreiten dort Frieden. Die Werkzeuge der spirituellen Arbeit dürfen nun angewandt werden. Die mutige Visualisierung und der Aufbau einer neuen Welt sind dringend erforderlich, sowie zugleich ein mutiges Nein zu einer alten, kranken Welt not-wendig ist.

Und ja: Gebet wie Meditation sind enorm kraftvoll. Aber sie sind aktuell wohl nicht dazu gedacht, um abzuheben und zu flüchten. Sie dürfen vielmehr die Welt transformieren. Wir sind jetzt aufgerufen, in die Welt hinauszugehen und Gesicht zu zeigen.

Ein Rückzug alleine ist zu wenig. Der Wasserlotus erblüht nur an der glatten, stillen Oberfläche. Wir jedoch sind der Feuerlotus, der auch auf bewegter See zu blühen vermag. Dienen wir der natürlichen Freiheit und nicht einem künstlichen Gehorsam! Tragen wir die Fackel der spirituellen Freiheit mitten hinein ins Leben! Das ist unser Meisterstück.

Wir sind nicht dazu gemacht, brave Schafe und funktionierende Roboter zu sein. Unser Erbe ist nicht eine künstliche Matrix. Unser Erbe ist die Verbundenheit mit allem Lebendigen in Freiheit und Liebe. Auf das Menschsein!

Gerald Ehegartner ist Lehrer, Wildnispädagoge, Visionssucheleiter und Autor der Romane „Kopfsprung ins Herz – Als Old Man Coyote das Schulsystem sprengte“ und „Feuer ins Herz – Wie ich lernte, mit der Angst zu tanzen“ sowie der Neuerscheinung „Gedanken in einer (w)irren Zeit – tiefsinnige und humorvolle Texte zu brisanten Themen unserer Zeit“ https://geraldehegartner.com/